„Die Ausstellung trägt den Titel M_TERI_LISMUS und genau so vielschichtig wie der Titel ist Manfred Unterwegers Kunst. Wir können uns dieser ganz einfach wie der Titel empfiehlt über die Materialität nähern, die Arbeiten ganz direkt in ihrer Materialität sinnlich erfassen, uns von ihrer direkten materiellen Wirkung gefangen nehmen lassen. Dabei kommt uns dann sehr schnell die Ironie, der Humor, der in den Arbeiten steckt, in die Quere. Die inhaltliche Seite der Kunst tritt in den Vordergrund. Wenn wir Kunst betrachten, machen wir immer beides, wir lassen die Arbeiten direkt auf uns wirken und wir wollen wissen, was uns der Künstler oder die Künstlerin zu sagen hat, treten, wenn es gut läuft, über das Medium Kunst in einen indirekten Kommunikationsprozess ein, in unserem Fall mit Manfred Unterweger.
Seine Kunst wirkt einerseits ganz direkt und andererseits gibt er uns mit den Titeln viele Hinweise darauf, was er uns zu sagen hat. Das beginnt bereits beim Ausstellungstitel. M_TERI_LISMUS ist ein Lückentext, d.h. eine Aufforderung, den Titel selbst mit Eigenem zu ergänzen, Eigenes in den Dialog mit der Kunst einzubringen. Wobei das hier nie beliebig wird, klar bleibt, dass es Manfred Unterweger um Materialismus geht. Aber der Begriff „Materialismus“ ist alles andere als einfach. Einerseits ist da die Materialität der Arbeiten, Asche, Gewürze, Staub, Zementkleber, Wachs..., andererseits meint Materialismus ein bestimmtes Weltbild, hier ist die einseitige Orientierung auf die Wirtschaft und materielle Güter gemeint. Diese beiden Seiten sind die Orientierungspunkte, um sich Unterwegers Werk zu nähern und der Humor verbindet beide Seiten.
Wie sich Form und Inhalt über den Humor miteinander verbinden, lässt sich an der Arbeit „Haarpune“ sehr schön nachvollziehen. Wir sehen einen alten Fön und menschliches Haar. Der Fön mit seinem alten Kabel und Stecker wird, anstatt auf dem Müll zu landen, zum Teil eines Kunstwerks, erfährt eine Aufwertung. Es zeigt sich, wie wertvoll Altes werden kann, es entfaltet eine neue ganz eigene technische Schönheit, die sich nicht mehr mit der Funktion des Haarföns verbindet, sondern für sich steht. Und Haar ist natürlich als Teil eines menschliche Körpers ein ganz besonderer Stoff. Nicht umsonst wurden und werden Haare oft tabuisiert und nicht öffentlich gezeigt. So verbinden sich hier technische und menschliche Schönheit und werden gleichzeitig durch den ironischen Titel „Haarpune“ gebrochen. Der Titel weist auf das Jagdgerät Harpune hin, das zum Fischfang, insbesondere zum Walfang eingesetzt wird. Und der Humor, der zweifellos auch in dem Titel steckt, wird plötzlich zu blutigem Ernst.
Menschliches Haar taucht auch in einer zweiten Arbeit Unterwegers auf. Es ist ein abgeschnittener Zopf. Das Abschneiden des Zopfes wird als Symbol der Entehrung verstanden. Die Arbeit trägt den Titel „Business as usual 2“ und weist auf die zweite Seite des Ausstellungstitels Ma.terialismus hin. Unterweger bezieht sich auf die Praxis in China, hingerichteten Gefangenen Organe zu entnehmen. Bei der Arbeit „Business as usual 1“, die oberflächlich betrachtet nichts mit Menschenrechten, Wirtschaft oder Politik zu tun hat, verbirgt sich diese Dimension in den Teebeuteln. In jedem Beutel chinesischen grünen Tees befindet sich eine Patrone vom Kaliber 9 mm, das Kaliber, mit dem in China Hinrichtungen stattfanden oder immer noch stattfinden. Mit den Menschenrechtsverletzungen in China beschäftigt sich ein ganzer Werkszyklus Unterwegers, der insgesamt den Titel „Brot und Spiele“ trägt. Dabei spielt für ihn das insgesamt vorherrschende Weltbild, das er mit Materialismus benennt, die wesentliche Rolle. Der Mensch ist nicht der Zweck des allgemeinen Handelns, sondern das Mittel, die Wirtschaft, die Güterproduktion voranzutreiben. Marktpositionen sind wichtiger als Menschlichkeit. Menschlichkeit ist das eigentliche Zentrum des Werks von Unterweger.
Sie wird nicht nur in der inhaltlichen Seite der Arbeiten deutlich, sondern bereits bei den verwendeten Materialien. Staub, Asche, Wachs sind keine wertvollen Materialien, sondern wie in der Arte povera arme Materialien. Aber ihre Materialität macht diese so menschlich, sie sind nichts Besonderes, bestehen nicht aus wertvollen Pigmenten oder sind keine edlen Metalle. Für mich ist damit auch die Verbindung zu der christlichen Bestattungsformel „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staube“ verbunden und damit eine fundamentale menschliche Erfahrung. Die menschlichen Dimensionen, die das Werk durchziehen, verhindert, dass die Ironie, der Humor, der in den Arbeiten steckt, oberflächlich wird. Unterweger entwirft einen Strumpftrockner, der die Leichtigkeit des Nylonstrumpfes mit all seinen damit verbundenen Assoziationen in eine gefährliche Nähe zur Heizspirale bringt, die Frage, wer da welches Feuer fängt und vielleicht darin verbrennt, bleibt im ironischen Spiel offen.
Mir persönlich liegt die Arbeit „Living in a box“ sehr am Herzen. Sie basiert auf einer Fotografie aus Nowa Huta, heute ein Stadtteil von Krakau. Nowa Huta, Neue Hütte war einst ein sozialistisches Vorzeigeprojekt und die Arbeit macht deutlich, wie sich mit der Entwertung der industriellen Arbeit Stadtteile verändern und wie Menschlichkeit immer wieder aufs Neue gedeutet werden muss. Dabei ist diese Veränderung nicht auf den einstigen sogenannten Ostblock begrenzt, auch in „unserem Nowa Huta“, dem Ruhrgebiet kann diese Veränderung beobachtet werden. Gleichzeitig könnte das Bild „Living in a box“ auch aus Duisburg stammen und würde auch dann zeigen, wie sich gesellschaftliche Veränderungen im Privatleben auswirken. Gerade hier liegen die Möglichkeiten einer Kunst, verstanden im Sinne von Unterweger. Da liegt das Private und das Gesellschaftliche nah beieinander. Und die Kunst kann mit ihren ästhetischen Mitteln diese zwei Seiten verbinden. Kunst wird individuell erfahren, sie spricht das Individuum sehr direkt an, sowohl auf der emotionalen Ebene als auch auf der intellektuellen. Kunst ist in diesem Sinne der individuelle Blick auf die Gesellschaft, stellt Zusammenhänge zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Individuellen auf sehr spezifische Weise her.
Unterweger scheut sich nicht davor, in die Kunst auch die „große Politik“ einzubeziehen und damit das Individuelle zu verschränken. Die Arbeit „Basra Depot 278“ zeigt einen Revolver, das Material, aus dem die Arbeit gefertigt wurde, erzeugt den Eindruck rissiger Erde. Das Depot in der irakischen Stadt Basra war das vermutete Chemiewaffendepot Saddam Husseins mit dem von Ge- orge W. Bush der zweite Irakkrieg begründet wurde. Gefunden wurden in dem Depot später nur Handfeuerwaffen. Mit diesem Wissen verändert sich die Arbeit, der Materialismus im Sinne der Ästhetik, wie hier Erde, Wachs, alltägliche Materialien, die uns sehr nahe sind, mit einem Revolver, mit dem wir in der Regel wenig direkt zu tun haben, zusammenkommen. Dieser ist einerseits ein Mordinstrument und andererseits westliches oder wildwestliches Freiheitssymbol. Dies Erdige verbindet sich mit dem Symbolischen und dieses wiederum mit dem Politischen. Dadurch ergibt sich die Komplexität der Arbeit, wir können sie ästhetisch erfahren, Material und Form sinnlich wahrnehmen, das wildwestfreiheitliche Symbolische einbeziehen und dieses wiederum mit der geopolitischen Situation verbinden.
Stärker direkt auf das Individuum bezogen ohne die gesellschaftliche Dimension aus den Augen zu verlieren, ist die Arbeit „Last statements“. Auf Bitumenstreifen stehen Sätze von in den USA
zum Tode Verurteilten kurz vor ihrer Hinrichtung. Manfred Unterweger schreibt zu dieser Arbeit
selbst: „In den USA haben die zum Tode verurteilten Delinquenten das Recht, kurz vor ihrer Hinrichtung ein letztes Statement abzugeben. Diese Statements werden veröffentlicht und dokumentieren auf eindrucksvolle und erschütternde Weise, dass bei den meisten der zum Tode verurteilten Häftlinge ihre Taten während ihrer langjährigen Inhaftierung in der Todeszelle ein Umdenkprozess stattfindet.“ Unterweger beschreibt hier seinen Antrieb, solche Arbeiten zu realisieren, als persönliche Erschütterung. Damit sind die Arbeiten wieder beides, sowohl indivduell, denn sie bearbeiten ein persönliches Erleben, als auch gesellschaftlich, denn sie beschäftigen sich mit einem hochpolitischen und umstrittenen Thema, wie auch die Arbeit „Into the blue“, die das Ertrinken der Geflüchteten im Mittelmeer thematisiert.
So lässt sich Unterwegers Kunst als individueller, ästhetischer Blick auf das Geschehen in der Welt interpretieren. Aber das Geschehen in der Welt ist nicht nur düster, die Weltsicht, die uns
Unterweger vermittelt, ist eben auch eine ästhetische, d.h. den Dingen und der Kunst im Speziellen wohnt trotz aller Düsternis auch so etwas wie Schönheit inne. Erfahrbar wird diese Schönheit direkt über das Material und die verwendeten Gegenstände. Unterstützt wird die Schönheit durch den Humor, der in Unterwegers Werk eine zentrale Rolle spielt. Beispiel dafür kann die eingedoste Hitze in der Hommage an eine der Lieblings-Rockbands „Canned Head“ sein. „Filzgericht“, die Krücke mit dem Rechen oder die Krücke mit dem Boxhandschuh schaffen einen spielerischen Zugang zum Werk. Aber Vorsicht, lassen Sie sich nicht täuschen, der erste Schein kann trügen. So trägt die Krücke mit dem Boxhandschuh den Titel „They never come back“ und weist auf die Regel hin, dass es bei Boxern kein erfolgreiches Comeback geben kann. Aber Muhammad Ali hat diese Regel gebrochen als er nach seiner Gefängnisstrafe für Wehrdienstverweigerung wieder in den Ring stieg. Zur Begründung, warum er nicht in den Vietnamkrieg ziehen wollte, zitierte Ali den Studentenführer und Bürgerrechtler Stokely Carmichael mit den Worten: „Kein Vietcong nannte mich jemals Nigger“.
Und schon sind wir wieder mitten drin in einer hochpolitischen aktuellen Auseinandersetzung. Das Gesellschaftliche und das Persönliche, Humor und Ernst, Schönheit und Häßlichkeit der
Welt lassen sich in Unterwegers Werk nicht trennen und sollen auch nicht getrennt werden.“
(Peter Schmidt)
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